DaFMat - Deutsch für Chinalektoren

Tianjin, 19. Mai 2009

Die fortschreitende Sinisierung beginnt im Allgemeinen ab dem dritten Jahr in China und gilt für ausschließlich in chinesischer Umgebung lebende Ausländer. In abgeriegelten Compounds (Wohnanlagen für Ausländer) lebende Expats sind davon nicht betroffen.
Wikipedia: Sinisierung bedeutet, eine gesellschaftliche Kultur chinesisch zu formen. Sie könnte als eine Form der Transkulturation betrachtet oder auch als "die Kultur Chinas in den Mittelpunkt stellender Akkulturationsprozess" beschrieben werden.

1. Prinzipiell gehe ich auf der Straße und nicht auf dem Gehsteig. Auch wenn der Verkehr dicht ist und die Autos meinetwegen anhalten müssen, gehe ich keinesfalls auf dem Gehweg. Der ist mit Gerümpel und Schutt voll gestellt oder die Wäscheleinen hängen so niedrig, dass ich mir den Hals abwürgen würde oder der Gehsteig ist komplett von Fahrrädern und Futterständen belegt.
2. Ab der ersten Oktoberwoche ziehe ich täglich meine langen Wollunterhosen an und höre erst im April damit auf. Es ist überall lausig kalt.
3. Wenn es wieder warm wird, kommen die Männer-Bikinis zum Tragen. Marcus krempelt sich das T-Shirt nach oben, so dass der ganze Bauch frei steht. Auch er streicht sich wie die Chinesen immer wieder mit einer fast zärtlich anmutenden Geste kreisend über den nackten Bauch – wie schwangere Frauen das oft tun. Bei besonderer Hitze rollt er noch die Hosenbeine bis zum Knie hoch, damit die nackten Waden entsprechend belüftet werden.
4. Beim Fahrkartenkauf und bei jedem Anstehen boxe ich mich in der Reihe nach vorne durch. Ich will schneller drankommen als die alten Dackel und drögen Typen vor mir. Ich hab einfach keinen Bock, so lange zu warten.
5. Wenn ich fotografiert werde, mache ich unbedingt das "Victoryzeichen" mit den beiden Fingern. Ansonsten erkennt man mich ja nicht und das Foto würde langweilig aussehen.
6. In den Bergen fotografiere ich nur Felsen und Steine mit chinesischen Schriftzeichen und mit meinen Begleitern davor, hoppla: Victoryzeichen. Sonst schauen Berge überall wie Berge aus, halt Berge, was sonst?
7. In mein Schlafzimmer hänge ich über unser Bett das Hochzeitsfoto, auch wenn man mich darauf eigentlich nicht erkennt. Im Fotostudio wurde mein Gesicht nämlich so stark retuschiert, dass ich wie ein Fotomodell ausschaue. Richtig toll!
8. Ich kaufe mir jetzt immer öfter Jeans und Pullis mit Spitzen, Rüschen und Paillettenbesatz. Es gibt ja auch nichts anderes.
9. Beim Autofahren werfe ich den Abfall aus dem Fenster. Das ist sozialverträglich und eigentlich eine „gute Tat“. Die Abfallsammler freuen sich besonders über Plastikflaschen und Metalldosen. Von irgendwas müssen die ja auch leben.
10. Auf der Autobahn fahre ich meistens auf der linken Spur, weil die rechte Spur von den Lastwagen zuschanden gefahren ist. Warum soll ich mein Auto ramponieren? Die anderen können mich ja rechts überholen, das mache ich auch so bei Dauerlinksfahrern.
11. Ausfahrt verpasst auf der Autobahn? Kein Problem! Rückwärtsstoßen oder einfach auch Wenden und zurückfahren. Die Schilder sind so spät oder gar nicht angebracht, dass man leicht mal 500 m oder auch einen Kilometer an einer Ausfahrt vorbeifährt.
12. Auf dem Zebrastreifen herumlungernde, Handy am Ohr telefonierende, zwei Schritte vor, einen zurück schwankend-wankende, unentschiedene Chinesen hupe ich entschlossen aus! weg! und tot! Wo bleibt denn da das Privileg des Autofahrers?
13. Ich freu mich immer, wenn ich beim Autofahren jemandem den Weg abschneiden kann. Schon wieder ein Stückchen gewonnen.
14. Beim letzten Besuch in der Autowerkstatt habe ich die Hupe verstärken lassen, die Mädels auf der Straße zuckten direkt zusammen, und auch noch eine Polizeiwarnblinkanlage gekauft. Im Bedarfsfall schnalle ich die aufs Autodach, tatü-tata, das garantiert freie Fahrt.
15. Wenn mich jemand nach dem Weg fragt, weise ich ihm gleich eine Richtung, auch wenn ich es nicht so genau weiß, sonst werde ich den ja nie mehr los, ich kenne ihn ja auch gar nicht. Außerdem fühle ich mich irgendwie peinlich, wenn einer mich was fragt, was ich nicht weiß.
16. Als Fußgänger achte ich nicht auf rote Ampeln, die sind nur für Autos da. Die Ampelphasen sind sowieso zu lang eingestellt, das dauert ewig.
17. Große Kreuzungen überquere ich als Fußgänger meistens diagonal, weil man so am schnellsten rüberkommt. Warum soll ich den langen Weg nehmen?
18. Wenn ich die Straße überquere, mache ich das ganz automatisch. Einfach auf die Straße und rüber, kein nach rechts, links oder hinten Schauen. Wozu auch? - die anderen sehen mich schon rechtzeitig. Die haben ja alle Bremsen.
19. Ich hab wieder mit dem Rauchen angefangen. Die Zigaretten sind so irre billig hier.
20. Mein Handy hat jetzt auch den neuesten Klingelton auf voller Lautstärke. Dazu blinkt, glitzt und klimpert es und kann fotografieren und überhaupt noch viel mehr Dinge, die ich aber nicht alle weiß. Auf dem Display prangt das Foto meines Mannes, mein Sohn ist schon erwachsen, als Baby würde er da viel besser hin passen.
21. An Chinesisch Neujahr klebe ich meine Wohnungstür und die Fenster mit Neujahrsbildern voll. Die sind bunt und sehen lustig aus.
22. Am Wochenende gehe ich jetzt oft zum Shoppen in die Department Stores, da ist es richtig hip und geil. Total irre Musik, höllisch laut. Und billige Klamotten. Zu dumm, dass es oft nicht die richtige Größe für mich gibt. Da muss ich mich noch ein wenig shrinken, ich bin einfach zu groß. Die meisten meiner Schüler geben auch Shopping als Hobby an.
23. Wenn mein Mann und ich im Restaurant beim Abendessen sitzen, höre ich dauernd meine SMS ab oder gucke, wen ich anrufen könnte. Mein Mann telefoniert dann auch ständig mit seiner Firma, dabei raucht er und isst. Manchmal denke ich, ihm sind in China noch zwei Hände dazu gewachsen.
24. Im Lehrerzimmer erzähle ich jeden Tag mehrmals jedem Kollegen, wann ich heute in welcher Klasse Unterricht habe und dass es heute draußen heiß bzw. kalt sei und dass es so anstrengend sei, weil ich heute so viel Unterricht habe. Über irgendwas muss man ja reden, ich bin doch ein höflicher Mensch.
25. Wenn mir jemand zeigt, was er gekauft hat oder mir davon erzählt, frage ich gleich nach dem Preis.
26. Meine Film-DVD-Sammlung ist inzwischen riesig. Bei den Preisen. Auf den Hüllen steht, dass Kopieren verboten ist, ich weiß auch nicht, wie die das machen bei Preisen von 40 - 60 Eurocent pro Film-DVD (englische, deutsche oder sonstige Sprache, auch mit Untertiteln). Ich hab bloß keine Zeit, die alle anzugucken.
27. Zum Abendessen nehmen wir unser Bier im Rucksack ins Restaurant mit, das ist billiger. Warum das teure Bier vom Restaurant kaufen?
28. Im Restaurant spucke ich Gräten und Knochenteile aus dem Mund direkt aufs Tischtuch, das ist ganz praktisch so und die Hände bleiben sauber.
29. Nach dem Essen schaut es auf und unter dem Tisch aus wie ein Schlachtfeld. Sämtliche Abfälle, Zigarettenasche, Papierservietten – einfach fallen lassen.
30. Wenn ich Reis, Nudeln, Gemüse, Fleisch mit den Stäbchen aus den leckeren Saucen heraus in den Mund schiebe, zieht sich unweigerlich eine chilipfefferrote, gelbe oder öligschwarze Tropfspur von der jeweiligen Schüssel bis zum Tischrand vor meiner Brust. Wenn ich Glück habe, endet sie kurz vor meinem T-Shirt.
31. Nach dem Bezahlen lasse ich alle Essensreste in Plastikschachteln einpacken, das ist dann ein netter Imbiss für den späten Abend oder auch fürs Frühstück. dabao 打包 nennt man das.
32. Im Lehrerzimmer sinkt des Öfteren mein Kopf auf den Schreibtisch und ich schlummere für ein halbes Stündchen. Demnächst lege ich mir auch den bequemen Schlafklappstuhl zu, den die meisten Lehrer haben. Die senkrechte Existenz an sich ist doch recht ermüdend.
33. Auf der Toilette lasse ich die Türe, falls es eine gibt, offen stehen und wurstele nach dem Geschäft auch erst außerhalb der Kabine meine diversen Hosen und die Unterkleidung in entsprechende Ordnung.
34. Meine gesamte Maniküre und Teile der Pediküre erledige ich im Lehrerzimmer. Das ist bequem und spart Zeit.
35. Es gibt Leute, die ich kenne und Leute, die ich nicht kenne. Warum soll ich auf Leute Rücksicht nehmen, die ich gar nicht kenne?